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Zusätzliche Gebühr

Von Norbert Schneider

Häufig wird der Fall, dass die Staatsanwaltschaft die Anklage zurücknimmt, als ein Fall der Zusätzlichen Gebühr nach Nr. 4141 VV aufgeführt. Dies ist in dieser Allgemeinheit allerdings nicht zutreffend. Die Rücknahme der Anklage kann zwar zu einer Zusätzlichen Gebühr führen, aber nur unter weiteren Voraussetzungen. Gleiches gilt bei Rücknahme des Antrags auf Erlass eines Strafbefehls.

I. Wann fällt die Zusätzliche Gebühr nach Nr. 4141 VV an?

Eine Zusätzliche Gebühr nach Nr. 4141 VV fällt an, wenn

  • das Verfahren nicht nur vorläufig eingestellt wird,
  • bei Nichteröffnung des Hauptverfahrens
  • wenn der Einspruch gegen einen Strafbefehl, die Berufung oder die Revision rechtzeitig zurückgenommen wird
  • sowie bei einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren nach § 411 Abs. 1 S. 3 StPO.

Der Fall der Rücknahme der Anklage bzw. des Antrags auf Erlass eines Strafbefehls ist in Nr. 4141 VV nicht erwähnt, und das aus gutem Grund. Während die in Nr. 4141 VV aufgeführten Beendigungstatbestände jeweils zur Erledigung des Verfahrens führen, haben die Rücknahme der Anklage oder die Rücknahme des Antrags auf Erlass eines Strafbefehls dies noch nicht zur Folge.

Die Rücknahme der Anklage oder des Antrags auf Erlass eines Strafbefehls bewirkt lediglich, dass das gerichtliche Verfahren endet. Dadurch wird die Sache aber faktisch wieder in das vorbereitende Verfahren und damit in die Herrschaft der Staatsanwaltschaft zurückversetzt. Führt die Rücknahme der Anklage oder des Antrags auf Erlass eines Strafbefehls aber nicht zur Erledigung des Verfahrens, kann sie auch keine Zusätzliche Gebühr auslösen.

II. Die Zusätzliche Gebühr bei Rücknahme und anschließender neuer Anklage oder erneutem Antrag auf Erlass eines Strafbefehls

Wird die Anklage oder der Antrag auf Erlass eines Strafbefehls zurückgenommen und wird dann erneut Anklage erhoben, oder wird erneut ein Antrag auf Erlass eines Strafbefehls gestellt, ist kein Raum für eine Zusätzliche Gebühr, weil sich dann das Verfahren gerade nicht erledigt.

Keine Zusätzliche Befriedungsgebühr bei Rücknahme der Anklage

Wird eine zunächst vor der großen Strafkammer erhobene Anklage zurückgenommen und sodann inhaltsgleich an die Jugendkammer gerichtet, so liegt nur ein Rechtsfall im gebührenrechtlichen Sinn vor. Die Gebühr nach Nr. 4141 VV entsteht nur dann, wenn die Rücknahme der Anklage nicht nur zur vorläufigen Einstellung des Verfahrens führt.

OLG Köln, Beschl. v. 5.2.2010 – 2 Ws 39/10, AGS 2010, 175

III. Die Zusätzliche Gebühr bei Rücknahme und anschließender Einstellung

Im Falle der Rücknahme der Anklage oder des Antrags auf Erlass eines Strafbefehls entsteht die Zusätzliche Gebühr erst dann, wenn die Staatsanwaltschaft anschließend das Verfahren nicht nur vorläufig einstellt. Die Handlung, die die Zusätzliche Gebühr auslöst, ist also nicht die Rücknahme der Anklage, sondern erst die nachfolgende Einstellung des Verfahrens. Erst durch diese Einstellung entsteht die Zusätzliche Gebühr.

Aus diesen Ausführungen folgt, dass die Zusätzliche Gebühr bei Rücknahme der Anklage oder des Antrags auf Erlass eines Strafbefehls niemals im gerichtlichen Verfahren entstehen kann, da dieses mit der Rücknahme endet und daher dort kein Raum mehr für eine Zusätzliche Gebühr ist. Weil mit der Rücknahme der Anklage oder des Antrags auf Erlass eines Strafbefehls das Verfahren vielmehr – wie bereits ausgeführt – in das vorbereitende Verfahren zurückversetzt wird, fällt die Zusätzliche Gebühr dort an.

Hinsichtlich der Abrechnung ist wiederum danach zu unterscheiden, ob die Verteidigung vor Anklageerhebung oder vor Antrag auf Erlass eines Strafbefehls bereits im vorbereitenden Verfahren tätig war oder nicht:

1. Die Verteidigung war bereits im vorbereitenden Verfahren tätig

War die Verteidigung vor Anklageerhebung oder Einreichung des Antrags auf Erlass eines Strafbefehls bereits im vorbereitenden Verfahren tätig, entsteht nach Rücknahme der Anklage oder des Antrags auf Erlass eines Strafbefehls keine neue Verfahrensgebühr nach Nr. 4104 VV, da es sich bei dem vorbereitenden Verfahren vor Anklageerhebung bzw. vor Antrag auf Erlass eines Strafbefehls und nach Rücknahme um dieselbe Angelegenheit i .S. d. § 15 RVG handelt und gem. § 15 Abs. 2 RVG die Gebühren in derselben Angelegenheit nur einmal verlangt werden können.

Hier ist es allenfalls möglich, dass die bisher abgerechnete Verfahrensgebühr aufgrund des weiteren Umfangs der Sache jetzt mit einem höheren Gebührenbetrag abgerechnet werden kann. In diesem Fall würde eine frühere Rechnung auch keine Bindungswirkung nach § 315 Abs. 1 S. 1 BGB entfalten, weil zum Zeitpunkt der Abrechnung der Tätigkeit im vorbereitenden Verfahren nicht damit gerechnet werden kann, dass es später nach Anklageerhebung bzw. nach Antrag auf Erlass eines Strafbefehls zu einer Rücknahme und damit zu einer Fortsetzung des vorbereitenden Verfahrens kommt.

Beispiel 1:

Die Verteidigung hatte im vorbereitenden Verfahren verteidigt und ausgehend von der Mittelgebühr abgerechnet. Hiernach kommt es zur Anklageerhebung. Die Anklage wird später zurückgenommen. Anschließend wird im vorbereitenden Verfahren nochmals weiter ermittelt und hiernach das Verfahren eingestellt.

Im vorbereitenden Verfahren erhält die Verteidigung die Grundgebühr (Nr. 4100 VV) und die Verfahrensgebühr nach Nr. 4104 VV. Im gerichtlichen Verfahren entsteht lediglich die Verfahrensgebühr Nr. 4106 VV. Hier soll jeweils von der Mittelgebühr ausgegangen werden.

Geht man jetzt davon aus, dass sich im wiederaufgenommenen vorbereitenden Verfahren die Verfahrensgebühr in Folge der Mehrarbeit um 30 Prozent erhöht hat, wäre jetzt hier eine entsprechend höhere Gebühr nachzuberechnen. Hinzu kommt die Zusätzliche Gebühr. Die im vorbereitenden Verfahren vor Erhebung der Anklage verdiente Vergütung ist dann zu verrechnen.

Danach ergibt sich folgende Abrechnung:

I. Vorbereitendes Verfahren

  1. Grundgebühr, Nr. 4100 VV
  2. Verfahrensgebühr, Nr. 4104 VV
  3. Postpauschale, Nr. 7002 VV

Zwischensumme

  1. 19 % Umsatzsteuer, Nr. 7008 VV

Gesamt


II. Erstinstanzliches gerichtliches Verfahren

  1. Verfahrensgebühr, Nr. 4106 VV
  2. Postpauschale, Nr. 7002 VV

Zwischensumme

  1. 19 % Umsatzsteuer, Nr. 7008 VV

Gesamt


III. Vorbereitendes Verfahren (Fortsetzung)

  1. Grundgebühr, Nr. 4100 VV
  2. Verfahrensgebühr, Nr. 4104 VV (30% über Mittelgebühr)
  3. Zusätzliche Gebühr, Nr. 4141, 4106 VV
  4. Postpauschale, Nr. 7002 VV
  5. abzüglich bereits abgerechneter (netto)

Zwischensumme

  1. 19 % Umsatzsteuer, Nr. 7008 VV

Gesamt

 

220,00 €

181,50 €

20,00 €

421,50 €

80,09 €

501,59 €

 
 
 

181,50 €

20,00 €

201,50 €

38,29 €

239,79 €

 
 

220,00 €

235,95 €
181,50 €

20,00 €
-421,50

235,95 €

44,83 €

280,78 €

2. Die Verteidigung war im vorbereitenden Verfahren noch nicht tätig

War die Verteidigung vor Anklageerhebung bzw. vor dem Antrag auf Erlass eines Strafbefehls noch nicht beauftragt, so entsteht mit Rücknahme der Anklage bzw. des Antrags auf Erlass eines Strafbefehls die Verfahrensgebühr der Nr. 4104 VV für die Verteidigung im Ermittlungsverfahren. Hinzu kommt wiederum die Zusätzliche Gebühr.

Entstehen der Vorverfahrensgebühr nach Rücknahme des Strafbefehls

Nimmt die Staatsanwaltschaft nach Erlass eines Strafbefehls und Einspruchseinlegung ihre Anklage zurück, versetzt sie damit das Verfahren in den Stand des Ermittlungsverfahrens zurück, mit der Folge, dass der Rechtsanwalt [oder die Rechtsanwältin], der vom Beschuldigten erst nach Anklageerhebung beauftragt worden ist, die Verfahrensgebühr Nr. 4104 VV verdient.

LG Berlin, Beschl. v. 28.12.2016 - 536 Qs 22/16, AGS 2017, 80

  1. Nimmt die Staatsanwaltschaft ihre Anklage zurück, versetzt sie damit das Verfahren in den Stand des Ermittlungsverfahrens zurück, mit der Folge, dass der Rechtsanwalt [oder die Rechtsanwältin], der vom Beschuldigten erst nach Anklageerhebung beauftragt worden ist, die Verfahrensgebühr Nr. 4104 VV verdient.
  2. Eine Einstellungsentscheidung nach § 170 Abs. 2 S. 1 StPO ist auch nach Rücknahme der Anklage ein Anwendungsfall der Nr. 4141 Anm. 1 S. 1 Nr. 1 VV.

AG Gießen, Beschl. v. 29.6.2016 – 507 Ds 604 Js 35439/13, AGS 2016, 394

Nimmt die Staatsanwaltschaft ihre Anklage bzw. den Antrag auf Erlass eines Strafbefehls zurück, versetzt sie damit das Verfahren in den Stand des Ermittlungsverfahrens zurück, mit der Folge, dass der Rechtsanwalt[oder die Rechtsanwältin], der vom Beschuldigten erst nach Anklageerhebung bzw. Beantragung eines Strafbefehls beauftragt worden ist, die Verfahrensgebühr Nr. 4104 VV verdient.

LG Bamberg, Beschl. v. 8.11.2023 - 13 Qs 79/23

Beispiel 2

Die Verteidigung wird erst mit Anklageerhebung beauftragt. Die Anklage wird später zurückgenommen. Anschließend wird das Verfahren von der Staatsanwaltschaft eingestellt.

Jetzt erhält die Verteidigung im gerichtlichen Verfahren die Grundgebühr sowie die Verfahrensgebühr der Nr. 4106 VV.

Mit Rücknahme der Anklage beginnt für sie erstmals das vorbereitende Verfahren, so dass sie die Gebühr Nr. 4104 VV zeitlich nach der Gebühr Nr. 4106 VV verdient. Hinzu kommt wiederum die Zusätzliche Gebühr nebst Auslagen. Ausgehend jeweils von der Mittelgebühr ist wie folgt abzurechnen:

I. Erstinstanzliches gerichtliches Verfahren

  1. Grundgebühr, Nr. 4100 VV
  2. Verfahrensgebühr, Nr. 4106 VV
  3. Postpauschale, Nr. 7002 VV

Zwischensumme

  1. 19 % Umsatzsteuer, Nr. 7008 VV

Gesamt

 

III. Vorbereitendes Verfahren

  1. Verfahrensgebühr, Nr. 4104 VV
  2. Zusätzliche Gebühr, Nr. 4141, 4106 VV
  3. Postpauschale, Nr. 7002 VV

Zwischensumme

  1. 19 % Umsatzsteuer, Nr. 7008 VV

Gesamt

 

220,00 €

181,50 €

20,00 €

421,50 €

80,09 €

501,59 €

 
 
 

 

181,50 €

181,50 €

20,00 €

383,00 €

72,77 €

455,77 €

IV. Fazit: Rücknahme alleine führt nicht zu Zusätzlicher Gebühr

Die Rücknahme der Anklage oder des Antrags auf Erlass eines Strafbefehls alleine führt noch nicht zu einer Zusätzlichen Gebühr. Vielmehr muss das Verfahren anschließend nicht nur vorläufig eingestellt werden. Wird dagegen die Anklage erneut erhoben oder wird erneut ein Antrag auf Erlass eines Strafbefehls gestellt, entsteht keine Zusätzliche Gebühr.

Kommt es nach Rücknahme der Anklage oder des Antrags auf Erlass eines Strafbefehls zu einer Einstellung, entsteht die Zusätzliche Gebühr im vorbereitenden Verfahren, in das die Sache zurückversetzt worden ist. Die Abrechnung, hängt dann davon ab, ob der Verteidiger bereits vor Erhebung der Anklage bzw. des Antrags auf Erlass eines Strafbefehls beauftragt war.

> Zusätzliche Gebühr: Gilt Schweigen als Mitwirkung bei Einstellung des Verfahrens?

Bild: Adobe Stock/©Animaflora PicsStock
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Rechtsanwalt Norbert Schneider ist einer der versiertesten Praktiker im Bereich des anwaltlichen Gebühren- und Kostenrechts und Autor zahlreicher Fachpublikationen und Seminare. Er ist außerdem Autor der Fachinfo-Tabelle Gerichtsbezirke 2024 zur Reisekostenabrechnung und Mitherausgeber der AGS – Zeitschrift für das gesamte Gebührenrecht sowie der NZFam.